Der Sangesritter durchschreitet die Porta Westfalica
Wie man Bayreuth auf eine kleine Bühne zaubert: Keith Warner inszeniert „Tannhäuser" in Minden
Raum ist im kleinsten Stadttheater für den glücklich liebenden Wagnerianer. Im westfälischen Minden steht ein kleines Stadttheater, 1907 erbaut, fünfhundert-fünfzig Plätze, Portalbreite acht Meter, Portalhöhe sechs Meter, Orchesterraum für etwa fünfzig Musiker - zu klein für ein Wagner-Orchester. Minden hat rund fünfundachtzigtausend Einwohner, davon sind fünfhundert im örtlichen Richard-Wagner-Verband versammelt. Die Vorsitzende heißt Jutta Winckler, ist im Nebenberuf Rechtsanwältin und hauptberuflich Wagner-Enthusiastin. Jedes Jahr fährt sie nach Bayreuth, sieht die Aufführungen, lernt Leute und Künstler kennen. Und so kam es, daß sie niemand Geringeren als den englischen Regisseur Keith Warner, der auf dem Grünen Hügel den „Lohengrin" inszeniert hatte, für den „Tannhäuser" zu interessieren vermochte, nicht für Bayreuth, sondern für das heimische Minden. So gelangte jetzt Richard Wagners unsteter Sangesritter von Bayreuth über die Por-ta Westfalica auf Mindens Bretter, die die Welt bedeuten, begleitet von Keith Warner samt Team und beschirmt von Bayreuths Hausherrn Wolfgang Wagner. Nur Mindens Bistumsstifter ist prominenter: Karl der Große, um 800.
Wer im Venusberg war, hat der Hölle Lust geteilt und und muß zu Kreuze kriechen. Tut er es nicht, wie Tannhäuser, weist ihn die Phalanx gestrenger Tugendritter ab. Foto Bertram Schulte
Für freundliche Herablassung oder milden Spott besteht kein Anlaß: Mindens Wagner-Ehrgeiz führte schon vor drei Jahren beim „Fliegenden Holländer" zu einem hochrespektablen Ergebnis (F.A.Z. vom 9. November 2002). Die „Tannhäuser"-Aufführung jetzt vermochte den damaligen Erfolg noch zu steigern. Neun Vorstellungen sind restlos ausverkauft, eine von ihnen für Jugendliche reserviert. Der Richard-Wagner-Verband setzt großen Ehrgeiz daran, junge Menschen für Wagner und die Oper überhaupt zu interessieren, mit gutem Gelingen, wie in Minden zu beobachten.
Über die Professionalität der Aufführung braucht man sich keine Gedanken zu machen, dafür steht nicht nur der Name Keith Warner. Auch die musikalische Seite der Aufführung besitzt Format: Es spielt die Nordwestdeutsche Philharmonie aus Herford, ein vorzügliches Regionalorchester mit achtundsiebzig Mitgliedern, das vorwiegend Konzerte gibt und mit spürbarem Engagement sich in das Abenteuer „große Oper" stürzt. Frank Beermann, der Dirigent, und Regisseur Warner entschieden sich für die Pariser Fassung, also für den erweiterten Ersten Akt mit großem Bacchanal. Es wird allerdings nicht, was meistens eher peinlich langt. Jason Southgates phantasievolles Szenarium arbeitet plausibel mit solchen optischen Zeichen. Fast genial gelingt der Einzug der Gäste als große Panorama-Video-Schau auf einem Zwischenvorhang.
Die Entscheidung für die Pariser Fassung erscheint, gerade wenn man Keith Warners Ästhetik betrachtet, folgerichtig: Warner schätzt, wie er sagt, das „schwebende" Theater, das die Dinge hin und her wägt und gewichtet, Mehr- und Vieldeutigkeit interpretierender Eindeutigkeit vorzieht. Die Figur der Venus wird speziell im ersten Akt dramatisch stark aufgewertet. Sie erscheint hier und im folgenden als gleichwertige Gegenspielerin der „keuschen" Elisabeth. Die furiose Chariklia Mavropoulou bringt dafür eine wahrhaft junonische Erscheinung mit, singt und agiert mit gewaltigem Impetus. Soviel Furor nötigt auch die Elisabeth, aus ihrer meist ein wenig edel-verinnerlichten Haltung auszubrechen: Meryl Richardson, die nach der Premiere mit Anne Schwanewilms die Partie übernahm, läßt mit dunklem Haar und ihrer schmalen Erscheinung im weißen Gewand eher an Verdis Violetta denken. Sie spielt ihre Leidenschaft für den zurückgekehrten Sänger Tannhäuser in Gesang, Gesten und Körperhaltungen sehr energisch und direkt aus, sicher ermuntert von der Regie.
Keith Warner durchbricht gern tradierte (sterile) Opernhaltungen durch eine direktere, lebendige Gestik, die die Figuren gleichsam psychologisch „moderner" erscheinen läßt. Das verleiht seinem Mindener „Tannhäuser" insgesamt einen lebendigen, vitalen Charakter.
Mit der Erlösung nimmt es der Regisseur auf seine Weise „ernst": im letzten Bild hängt ein großer trockener Ast in der Portalöffnung. Plötzlich knallen Feuerwerkskörper auf den Zweigen: die Erlösung ein fauler Zauber? Aber dann dürfen die unselig Liebenden doch noch im Sterben langsam aufeinander zukriechen, sich (fast?) mit den Fingerspitzen vereinend, nachdem ihnen ein weißer Lichtpfeil den Weg (wohin?) gewiesen hat. Alles bleibt eben in der Schwebe.
John Charles Pierce ist ein imponierender Tannhäuser, stimmgewaltig, auch geschmeidig singend. Erbarmen-Rufe und Rom-Erzählung werden ohne Stimmbandreue absolviert. Heiko Trinsingers Wolfram strahlt die Noblesse eines genuinen Liedersängers aus, Andreas Hörl ist ein würdevoller Landgraf aus dem Opernbilderbuch, auch solche Figurinen schätzt Keith Warner. Der Chor war wieder aus Sofia gekommen und gefiel durch vollen, kräftigen Klang. In einem Augenblick, wo andernorts, in Bremen etwa oder in Lübeck, die Situation der Theater eher Depressionen hervorruft, wirkt die kaum glaubliche Theaterbegeisterung in Minden fast wie ein Fanal: Das Theater wird wieder zum Ort der versammelten Bürgerschaft, die zugleich bereit ist, die materiellen Voraussetzungen für ein so gewagtes Unternehmen wie diesen „Tannhäuser" zu erbringen. GERHARD ROHDE
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