Götterdämmerung / Handlung
Das Wagner Kompendium, Barry MillingtonEntstehung
Der erste Entwurf von Siegfrieds Tod (ursprünglich Siegfriede Tod geschrieben und später in Götterdämmerung umbenannt) ist (am Schluß) mit 20. Oktober 1848 datiert. Dieser Entwurf beginnt in der Gibichungenhalle, aber nachdem sich Wagner hatte überzeugen lassen, daß er zuviel Hintergrundwissen für die Geschichte voraussetzte, fügte er noch vor dem 12. November ein Vorspiel hinzu. Zwischen dem 12. und 28. November erstellte er die Versfassung von Siegfrieds Tod, aber dann legte er das Drama beiseite, vielleicht weil er sich unsicher war, wie er die verschiedenen Stränge - Göttermythos und Heldentragödie - vereinen konnte. Im Sommer 1850 machte er einige musikalische Skizzen zum Vorspiel und begann mit einem Kompositionsentwurf, der mit dem Anfang der Abschiedsszene zwischen Siegfried und Brünnhilde abgebrochen wurde. Nachdem Wagner ein vorbereitendes Drama, Der junge Siegfried (1851), sowie Die Walküre und Das Rheingold (1851/52) hinzugefügt hatte, hielt er es für notwendig, Siegfrieds Tod einer Überarbeitung zu unterziehen: Siegfried war bereits durch Wotan als zentrale Gestalt des Zyklus ersetzt worden; der Schluß wurde verändert, so daß die Götter und Walhall durch Feuer vernichtet wurden; die Nornenszene wurde vollständig umgeschrieben; eine Konfrontation zwischen Brünnhilde und den übrigen Walküren wurde zum Dialog zwischen Brünnhilde und Waltraute (1. Aufzug, 3. Szene) verdichtet; außerdem wurden einige erzählende Passagen gestrichen, die jetzt durch Die Walküre und Das Rheingold überflüssig geworden waren.
In dieser Textfassung von 1852 wurden die folgenden Zeilen hinzugefügt:
Nicht Gut, nicht Gold, noch göttliche Pracht; nicht Haus, nicht Hof, noch herrischer Prunk;selig in Lust und Leid läßt - die Liebe nur sein.
Wegen des deutlichen Einflusses des Philosophen Ludwig Feuerbach (siehe »Geistesgeschichtlicher Hintergrund«, S. 56, 62) - vor allem in der Erhebung der Liebe über materielle Besitztümer - sollte dieser Schluß als »Feuerbach-Schluß« bekannt werden.
Doch 1856, bedingt durch die einschneidende Begegnung mit der Philosophie Schopenhauers, aber auch durch sein gleichzeitig erwachtes Interesse am Buddhismus, veränderte Wagner den Schlußtext noch einmal. Im »Schopenhauer-Schluß« sieht sich Brünnhilde, die »Wissende«, vom endlosen Zyklus des Leidens und der Wiedergeburt erlöst; wissend geworden durch »Trauernder Liebe tiefstes Leiden«, geht sie in den Zustand des Nichtseins, d.h. in das Nirvana ein:
Führ’ ich nun nicht mehr nach Walhall’s Feste, wiss’t ihr, wohin ich fahre?
Aus Wunschheim zieh’ ich fort,
Wahnheim flieh’ ich auf immer; des ew’gen Werdens off’ne Thore schließ’ ich hinter mir zu:
nach dem wünsch- und wahnlos heiligstem Wahlland, der Welt-Wanderung Ziel, von Wiedergeburt erlös’t, zieht nun die Wissende hin.
Alles Ew’gen sel’ges Ende, wiss’t ihr, wie ich’s gewann?
Trauernder Liebe tiefstes Leiden schloß die Augen mir auf: enden sah ich die Welt.
Die kontinuierliche Arbeit an der Musik zur Götterdämmerung wurde mit dem ersten Gesamtentwurf eingeleitet, der am 2. Oktober 1869 begonnen und am 10. April 1872 abgeschlossen wurde. Der zweite Gesamtentwurf (Particell) entstand wie bei Siegfried parallel dazu, zwischen dem 11. Januar 1870 und dem 22. Juli 1872. Die Partitur wurde am 21. November 1874 in Wahnfried fertiggestellt.
Musikalischer Stil
Die Götterdämmerung führt das im dritten Aufzug des Siegfried begonnene Verfahren fort, die Motive mit einer in Oper und Drama kaum vorausgesehenen Freiheit einzusetzen und zu kombinieren. Während in den früheren Opern des Zyklus das motivische Material recht eng mit dem Text verknüpft ist, ist die Partitur der Götterdämmerung durch eine größere Dichte der Motivsubstanz und ihre sich unmittelbar anschließende musikalische Verarbeitung geprägt. Und dennoch stellt die Götterdämmerung in mancherlei Hinsicht auch einen stilistischen Rückschritt dar. So werden z.B. die musikalischen Mittel des Terzetts der Verschwörer im zweiten Aufzug mit seinen Wortverdopplungen, dem Ensemblegesang und seiner Art der Deklamation oft mit den Mitteln der herkömmlichen Grand opera verglichen. Der scheinbare Widerspruch läßt sich teilweise durch die Tatsache erklären, daß das Textbuch für die Götterdämmerung mehr als zwanzig Jahre vor der Musik verfaßt wurde, als die Theorien des Musikdramas noch nicht formuliert waren.
Ähnlich rückschrittlich ist der Chor der Mannen in der 2. Szene des 2. Aufzugs: ein C-Dur-Ensemble (wenn auch unter dem unheilvollen Einfluß Hagens mit übermäßigen Dreiklängen gefärbt) in einem etwas altmodischen Stil. Er ist jedoch unbestreitbar sehr bühnenwirksam und hinterließ offenkundig einen starken Eindruck beim jungen Schönberg, der in seinen Gurreliedern deutlich darauf anspielt.
Die rückwärtsgerichteten Tendenzen beeinträchtigen die stilistische Integrität der Götterdämmerung jedoch kaum. Die unterschiedlichen Elemente werden mit einer technischen Fertigkeit und einer dramaturgischen Überzeugungskraft zusammengeschweißt, die kleinliche Kritik beiseite räumen. Die Länge und die Komplexität des Werks, die eine häufige Aufführung ausschließen, stellen außerdem sicher, daß eine Inszenierung dieser Oper - normalerweise als Höhepunkt des vollständig aufgeführten Ring-Zyklus - ein besonderes Ereignis darstellt.