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Musikalischer Stil
- Die konkurrierenden Sphären der sinnlichen und der spirituellen Liebe, die der Venusberg auf der einen Seite und Elisabeth und die Wartburg auf der anderen Seite repräsentieren, werden direkt in der Musik dargestellt. Die Tonart E-Dur ist mit dem Venusberg verbunden, Es-Dur mit den Pilgern, mit heiliger Liebe und Rettung. In der emphatischen Rom-Erzählung (dritter Aufzug, dritte Szene) beispielsweise macht das Es-Dur bei der Audienz beim Papst nach einer Reihe von Modulationen dem E-Dur des Venusbergs Platz, bevor die endgültige triumphierende Rückkehr zu Es-Dur Tannhäusers Rettung bekräftigt. Aber es gibt auch eine tiefere Polarität im Werk, die im Zusammenhang mit dem gesellschaftlich-historischen Hintergrund der Oper zu sehen ist. Tannhäusers Eintreten für eine weltliche, sinnliche Liebe ist eine Widerspiegelung der hedonistischen Anschauungen des Jungen Deutschland, von dem Wagner in den 30er Jahren beeinflußt worden war. Die Verachtung gegenüber den festgefügten, reaktionären Tugenden der Biedermeierzeit und für die Scheinheiligkeit des Bürgertums in sexueller Hinsicht, die von der Kirche und vom Staat aufrechterhalten wurde, wird deutlich in den höhnischen Bemerkungen Tannhäusers während des Sängerstreits. Musikalisch wird der reaktionäre Hofstaat der Wartburg mit traditionellen, um nicht zu sagen veralteten opernhaften Strukturen verbunden, während der Venusberg durch den neuen fortschrittlichen Stil des Musikdramas charakterisiert wird, dem sich Wagner immer mehr annäherte. Der Sängerstreit beispielsweise ist eine Reihe von mehr oder weniger selbständigen Arien. Elisabeth hat zwei konventionelle Arien (die Hallenarie »Dich, teure Halle«, die den zweiten Aufzug eröffnet, und ihr Gebet, »Allmächtige Jungfrau«, im dritten Aufzug) sowie ein traditionelles Duett mit Tannhäuser. Wolframs berühmte Arie »O du mein holder Abendstern« ist mit ihren regelmäßigen achttaktigen Perioden und ihrem tonalen Aufbau ebenfalls in hohem Maße konservativ. Außerdem sind die Konturen eines traditionellen italienischen Finales des 19.Jahrhunderts im zweiten Aufzug des Tannhäuser immer noch erkennbar, worauf Carolyn Abbate hingewiesen hat (1984, 1988); Teile, die die Handlung einfrieren, wechseln ab mit solchen, die sie vorwärtsbringen. Es gibt sogar einen klassischen coup de theätre (Elisabeths »Haltet ein!«, wenn sie eingreift, um Tannhäuser vor den Rittern zu schützen) und eine abschließende Stretta (»Mit ihnen sollst du wallen«). Elisabeths dramatische Einmischung ist übrigens ein weiterer Anklang an den vergleichbaren Augenblick in Beethovens Fidelio, als Leonore eingreift, um ihren Ehegatten Florestan zu beschützen (ein ähnlicher Nachklang taucht im Liebesverbot auf, siehe S. 293). Wenn die mit der Wartburg verbundene Musik stilistisch rückwärtsgerichtet ist, so ist die des Reichs der Venus wesentlich fortschrittlicher. Ihre Musik im Duett mit Tannhäuser (erster Akt) befreit sich aus der Zwangsjacke regelmäßiger Phrasenlängen, die vor allem im Gegensatz zu Tannhäusers eigenen eher formelhaften Äußerungen stehen. Diese Szene und das vorangehende Bacchanal sind auch in anderer Hinsicht fortschrittlich: Sie sind weniger straff gebaut; die Vertonung folgt mehr dem Drama, und es gibt rudimentäre Beispiele für motivische Querverweise. All dies gilt zu einem gewissen Grad für die originale Dresdner Fassung, aber die tristanhaften Dehnungen und die ausdrucksvollen Asymmetrien der Pariser Fassung (siehe unten) erhöhen den stilistischen Kontrast beträchtlich. Abgesehen von diesen Szenen erscheint die fortschrittlichste Kompositionsweise des Tannhäuser in der Rom-Erzählung. Hier steht das erzählerische Element im Vordergrund; deshalb macht die regelmäßige Phrasenstruktur einem kontinuierlichen dramatischen Rezitativ oder Arioso Platz, das dem der späteren Musikdramen vergleichbar ist. Der Charakter der Musik verändert sich tatsächlich, wenn es im Text um Tannhäusers Reumütigkeit zu Beginn seiner Reise, seine Erinnerung an Elisabeth, die tief bedrückten Pilger, die ehrfürchtige Stimmung in Rom, die demütige Buße und schließlich um die Zurückweisung durch den Papst geht. Nicht nur der Vokalpart ist bemerkenswert; das Orchester übernimmt in der Rom-Erzählung ebenfalls eine gewichtige Rolle. Die in dieser Form wohl noch nie dagewesene Verwendung des Orchesters für expressive, veranschaulichende Zwecke, als Medium, um Spannung zu erzeugen und Wandlungen darzustellen - d.h. die Hauptlast der dramatischen Entwicklung zu übernehmen -, weist auf die epochemachenden Neuerungen des Rings und der späteren Werke voraus.
- Die Pariser Revisionen
- Nur drei Wochen vor seinem Tod tat Wagner die berühmt gewordene Äußerung, daß er der Welt noch den Tannhäuser schulde (CT, 23. Januar 1883). Trotz der verschiedenen Überarbeitungen, die er an der Partitur im Lauf der Jahre seit der Uraufführung in Dresden 1845 vorgenommen hatte (zuletzt einige kleine Änderungen an der Pariser Fassung für mehrere Aufführungen in Wien im Jahr 1875), war Wagner noch nicht der Ansicht, daß er eine endgültige Partitur zustande gebracht hätte. Vielleicht hat ihn auch die ständige Flickschusterei unzufrieden gemacht. Es wurde schon beschrieben, daß die Partitur in ihrer ursprünglichen Form konservative und progressive Elemente nebeneinander enthielt. Diese stilistischen Diskrepanzen wurden noch wesentlich verstärkt, als Wagner Teile der Partitur für die Pariser Aufführungen neu schrieb; deren Stil stand zwangsläufig dem des Tristan näher, an dem er kurz vorher gearbeitet hatte, als dem sich noch entwickelnden Stil um 1845. Die stilistische Uneinheitlichkeit der Pariser Fassung ist am offensichtlichsten in den letzten Teilen des neuen Bacchanals und in der neu geschriebenen Szene für Venus und Tannhäuser (erster Akt, Szene l und 2). Das Bacchanal ist nicht nur viel länger und wilder (für Paris wurden Kastagnetten und eine dritte Pauke hinzugenommen), sondern es enthält auch deutlich tristaneske Ideen und Texturen wie die ansteigende chromatische Phrase aus vier Tönen, die im Tristan allgegenwärtig ist. Die Sirenenrufe werden in ihrer Begehrlichkeit integraler Bestandteil der Musik, ebenso die Antworten der Venus auf Tannhäuser in der zweiten Szene. Während vorher ihre eher einfache Deklamation von schmucklosen Akkorden unterstrichen worden war, ist nun ihre Gesangslinie sinnenhaft geschmeidig und mit einer reich instrumentierten Begleitung versehen.
- Die Charakterisierung der Venus wird noch weiter vertieft durch die Einfügung von zwei Äußerungen nach Tannhäusers Hymne an die Liebe. Die erste (»Sie, die du siegend einst verlachtest«) ist zornig und spöttisch, die zweite (»Ha! du kehrtest nie zurück!«) ein Ausbruch echter Verzweiflung. So wird die vergleichsweise oberflächlich gestaltete und eindimensionale Venus der Dresdner Fassung für Paris in Text und Musik in einen vollständig abgerundeten Charakter verwandelt. Die Skala an Emotionen, die ihr zu Gebote stehen, um Tannhäuser zurückzulocken (stille Ungläubigkeit - Ungehaltenheit - verführerischer Zauber - heftiger Zorn - Verzweiflung), ist der listenreichen, schizophrenen Kundry im zweiten Akt des Parsifal ebenbürtig.
- Eine weitere tiefgreifende Veränderung wurde für Paris vorgenommen. Aufgrund der Unfähigkeit des Tenors, der die Rolle singen sollte, wurde Walthers Beitrag zum Sängerwettstreit gestrichen, so daß Tannhäuser nicht auf Walther, sondern auf Wolfram erwidert. Weitere kleinere Überarbeitungen: Hirtenlied im ersten Aufzug, 3. Szene; in der 4. Szene des ersten Aufzugs Neuinstrumentierung von 13 Takten unmittelbar vor Tannhäusers »Zu ihr! zu ihr!«; Schlußtakte des zweiten Aufzugs leicht verändert, ebenso des dritten (ergänzt durch eine Harfe).
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Quelle: Tannhäuser und der Sängerkrieg auf Wartburg von Richard Wagner
Herausgegeben von der Staatsoper Unter den Linden Berlin, Insel Verlag
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